Wie lebten die Menschen vor 200 Jahren im Hinterland
Kombach war der Heimatort von sechs der neun am Geschehen Beteiligten. Die anderen Teilnehmer am sogenannten "Postraub" kamen aus Wolfgruben und Dexbach. Diese Dörfer lagen im nördlichsten Zipfel der hessen-darmstädtischen Provinz Oberhessen, der wegen seiner abgeschiedenen Lage das „Hinterland“ genannt wurde. Hauptverbindung in diese Region war die Poststraße von Gießen über Gladenbach und Biedenkopf nach Battenberg. Sie führte von der Stadtgrenze Gießen bis zum Dorf Mornshausen a.S. über das Staatsgebiet Preußens und des Kurfürstentums Hessen-Kassel. Erst in den Jahren nach dem „Postraub“ wurde zwischen Gladenbach und Gießen eine Chaussee fertiggestellt, die mit Ausnahme einer kleinen Strecke nur über das Territorium des Großherzogtums führte.
Die wirtschaftliche Lage der Bevölkerung des „Hinterlandes“ war zu Beginn des 19. Jahrhunderts äußerst schlecht. Wegen der besonders hohen Verschuldung des Staates erhob das Großherzogtum sehr hohe Steuern. Außerdem wurde die Bevölkerung mit erheblichen Gemeindesteuern sowie durch bedeutende Kriegsschulden belastet. In den Dörfern erhöhten sich die Steuerlasten derjenigen, die überhaupt Steuern zahlten und verminderte sich in dem Maße, wie im Zuge der Verelendung großer Bevölkerungsteile unmittelbar vor der Industrialisierung die Zahl der völlig Vermögenslosen rapide anstieg.
Ebenso war auf den mageren Böden des Hinterlandes der Ertrag in der Landwirtschaft weit geringer, als in anderen Gegenden des Landes. Er betrug gegenüber der sogenannten Kornkammer Hessens, der Wetterau, nicht einmal die Hälfte. In den ungünstigen und meist steinigen Hanglagen der Gemarkung Kombach war der Ertrag besonders gering.
Erschwert wurde die wirtschaftliche Lage noch durch die hier vorherrschende Form des bäuerlichen Erbrechts. Infolge der Realerbteilung oder auch Realerbteilungsrecht bedeutet das, dass der Besitz einer Familie, insbesondere der Landbesitz (früher als Realitäten bezeichnet), unter den Erbberechtigten gleich aufgeteilt wurde. Diese Aufteilung fand bei jedem Erbgang statt, sodass die im Besitz befindlichen Parzellen stetig kleiner wurden. In dem Maße, wie der Lebensunterhalt allein durch die Landwirtschaft nicht mehr erwirtschaftet werden konnte, wurde das Überleben von vorhandenen Nebenerwerbstätigkeiten abhängig.
Insbesondere bildete die seit dem 18. Jahrhundert in Biedenkopf blühende handwerkliche Textilproduktion die unentbehrliche Existenzgrundlage für die ärmere Bevölkerung der Umgegend. In Biedenkopf gab es 1778 über 150 Tuchmachermeister, deren Zahl bis 1816 noch zunahm. Neben der Lohnarbeit bei den Tuchwebern erhielt die Textilproduktion mit der Heimspinnerei und der Heimstrickerei ihre für das Hinterland charakteristische Form.
Hinterländer „Strumpfleute“ setzten ihre Strickwaren im Hausierhandel (1) in den Städten der Rhein- und Maingegend ab, so auch der Dexbacher David Briel, der Initiator des Überfalls. Hauptabsatzgebiete waren auch die benachbarten preußischen Provinzen. Teile des Exports gingen auf den europäischen Markt. Mit der Einrichtung der napoleonischen Kontinentalsperre (2) (1806 - 1813) sank der Absatz. Nach der Vernichtung der „Großen Armee“ in Russland führten französische Militäraufträge 1813 nur noch einmal kurzfristig zur Belebung des niedergehenden Gewerbes, das nun seine Bedeutung als Regulator zwischen wirtschaftlicher Grundsicherung der Hinterländer Bevölkerung und unzureichendem landwirtschaftlichen Beschäftigungsangebot verlor.
Während der Zeit der französischen Besetzung mussten viele Bauern ihr Land mit Grundrenten belasten. So waren nicht nur kleine, sondern sogar mittlere Bauern hoch verschuldet. Als ein zusätzliche Belastung erwies sich die sogenannte Bauernbefreiung der napoleonischen Zeit. In Hessen-Darmstadt wurde 1811 die Aufhebung der Leibeigenschaft und aller damit verbundenen Abgaben und Frondienste dekretiert. Dahinter stand die Absicht, die alten Naturalabgaben und Dienste in feste Geldrenten oder eine einmalige Ablösung durch Geld zu verwandeln. Die „Bauernbefreiung“ musste teuer erkauft werden. Nur die reichsten Bauern konnten sich tatsächlich freikaufen. Andere nahmen weitere Verschuldung auf sich und bezahlten bis zu drei Generationen lang die Ablösung. Weil bei der großen Zahl von Zwangsverkäufen der Wert der Ländereien sank, reichte der Erlös oft nicht einmal zur Deckung der Schulden.
In dieser Lage der Armut, Verschuldung und Existenzgefährdung befand sich auch der Kombacher Hans Jacob Geiz sowie die Mittäter am Postraub und viele andere Familien in den Dörfern des „Hinterlandes“. So musste es dem untersuchenden Kriminalrichter Danz geradezu als Indiz für unrechtmäßigen Besitz auffallen, dass sich der alte Geiz, dessen Gesamtvermögen auf 270 Gulden geschätzt wurde, einen Ackerwagen für 28, Getreide für 26 Gulden in bar, die Begleichung fremder Steuerschulden und die Zahlung von 200 Gulden Einzugsgeld für seinen Sohn leisten konnte oder bedeutende Mengen Getreide kaufen konnte.
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(1) Geschichtliche Entwicklungen, wie die Einführung der napoleonischen Kontinentalsperre, ließen den Absatz dieser Textilprodukte stark sinken.
(2) Die Kontinentalsperre war eine von Napoleon am 21. November 1806 in Berlin verfügte Wirtschaftsblockade über das Vereinigte Königreich und dessen Kolonien. Das in Frankreich schon 1796 bestehende Importverbot für britische Waren wurde infolge der militärischen Siege Napoleons auf die kontinentaleuropäischen Staaten ausgeweitet. Großbritannien sollte mit den Mitteln des Wirtschaftskrieges zu Verhandlungen mit Frankreich gezwungen und die französische Wirtschaft gegen europäische und transatlantische Konkurrenz geschützt werden. Die Kontinentalsperre bestand von 1806 bis 1813.